KIRSTENS FÜNF: STÄDTEREISEN

Ich habe Urlaub. Sogar richtig lange. Nach einem arbeitsreichen bisherigen Jahr heiß ersehnt. Ich merke, dass Menschen, die mich nach meinem Reiseziel fragen, große Erwartungen haben. Vermutlich würden Antworten wie "Och, ich wollte schon immer mal ein paar polynesische Inseln erkunden", oder "Ich tausche mit einem Architekten aus Japan für ein paar Wochen die Wohnung. Der interessiert sich für die 50er-Jahre-Bebauung in Köln und, naja, Tokyo stand ja schon lange auf meiner Liste", diese Erwartungen befriedigen. Die Wahrheit ist: Ich bin im Moment zu müde. Zu müde, einen neuen Ort kennenzulernen. Ich hab das tiefe Bedürfnis, einfach zuhause zu bleiben. Nachmittags im Café sitzen und lesen. Mal in ein Museum gehen oder mir ein Bauwerk von innen anschauen, an dem ich sonst immer nur vorbeilaufe. Freunde treffen und solche Verabredungen nicht nur um den Arbeitsalltag drumrum organisieren. Zweimal hintereinander am gleichen Tag ins Kino gehen. Auf dem Sofa rumlümmeln und endlich die zweite Staffel "Downton Abbey" schauen, tagsüber, stundenlang. Dann mal raus auf den Balkon, für eine Kuchenlänge. Und wieder rein und weitergucken. Oder einfach nur laut und lange Musik hören. Zum Fernreisen reichen mir diesen Sommer ein paar Filme und Bücher. Hier meine fünf liebsten:

Bei jedem Film von WES ANDERSON bin ich gespannt, wo die Reise diesmal hingeht. In ein Pfadfinderlager. Unter die Meeresoberfläche. Per Zug durch Indien. Vor allem: In die Anderson-Version dieser Orte, denn es sind schrullige, bunte, sorgfältig komponierte Fantasiegebilde. Und so liebe ich es, mit Anderson und seinen "Royal Tennenbaums" in ein New York zu reisen, wie ich es in der Realität nicht erleben könnte. Ich bin gerührt von dieser dort wohnenden, schrecklich beknackten Familie, die trotz aller Egomacken nicht ohne einander kann. Ich liebe, wie ein knurriger Gene Hackman heimlich seinen Enkeln beibringt, was Spaß ist. Wie Bill Murray sich wie ein melancholischer bärtiger Maulwurf vergeblich um seine junge Frau Margot bemüht. Wie eine kajaltriefende Gwyneth Paltrow stoisch ihre Zigaretten raucht. Wie ein hüftsteifer Danny Glover Angelica Huston ungelenk einen Heiratsantrag macht. Und das Tenenbaum-Haus, in dem sich alle immer wieder begegnen, irgendwo in New York.

Ich höre selten Popmusik im klassischen Sinne. Ich bezeichne neongelbe Radlerhosen mit Fransen und Blumenshirts mit Monsterschulterpolstern für gewöhnlich nicht als sexy. Und dann kommt SANTIGOLD. Zeigt, dass frau in Popsongs nicht nur über Liebe, Jungs und Herzschmerz singen muss. Dass sie musikalisch alles mixen kann, worauf sie Bock hat. Dass knallbunte Videos in 90er-Ästhetik immer noch cool sind und mich ein bisschen selig an viel vor MTV vertrödelte Provinzjugend erinnern. "So machen wir das in Brooklyn", sagt sie auf der Bühne, freut sich über die jubelnde Menge und lacht. Vor allem macht sie ihr eigenes Ding. Was ne coole Sau. Ich kann einen Konzertbesuch nur empfehlen. Oder das laute Hören ihrer Songs beim nächtlichen Fahren durch die Stadt.

Eine Querflöte zirpt, das Schlagzeug wird sanft angeschlagen, die Gitarre dazu, Streicher und Bläser setzen ein und ein Mann tanzt mit seiner Stimme darüber. Das ist nicht Brooklyn, das ist London. Und das Gegenteil von modern. Bluesig, soulig, eine Zeitreise in die 60er Jahre, an denen MICHAEL KIWANUKA offensichtlich Lust hat. Meiner Fußballunlust verdanke ich, über diesen Sänger gestolpert zu sein. Arte statt EM. Zum Glück. Im Herbst will ich ihn unbedingt auf der Bühne sehen.

Das Arte-Programm hat mich mit seinem "Britishness"-Themenschwerpunkt auch durch den Rest der EM gerettet. Von London aus bin ich aufs Land weitergereist und einmal die Woche in JANE AUSTENS Welten abgetaucht. Wunderbar, wenn Dialoge immer erstmal mit einer Frage eröffnet werden, ob es denn auch den Eltern und Geschwistern gesundheitlich gut gehe. Immer wieder schön: Die BBC-Verfilmung von "Pride and Prejudice". Die mit Colin Firth als Mr. Darcy und der berühmten Teich-Szene, bei der die Zuschauerin unwiderruflich den gleichen entrückten Gesichtsausdruck bekommt wie Elizabeth Bennet. Colin Firth wird wohl trotz Oscargewinn für immer der Mann bleiben, der selbst in teichfeuchtem Zustand seine Elizabeth erstmal fragt, ob denn auch ihre Eltern wohlauf seien.

Mit JULIE DELPY macht mir Städtereisen besonders Spaß. Ich staune über ihr wunderschönes Gesicht, als sie in "Drei Farben: Weiß" mit ihrem polnischen Ehemann hadert und am Ende in Warschau strandet. Wie unfassbar jung sie da war und ebenso in "Before Sunrise", als sie mit Ethan Hawke durch Wien läuft. Wie sie ihm Jahre später in Paris wieder begegnet (ob es jemals einen dritten Teil dieser Filmreihe geben wird? Und in welcher Stadt treffen sich Julie und Ethan dann?). Wie sie und ihre Familie ihren amerikanischen Freund in Paris und in New York an den Rand des Nervenzusammenbruchs führen. Woody Allen verschlägt es in seinem nächsten Film nach Rom (und endlich spielt er auch selbst wieder mit), aber sollte er irgendwann keine Filme mehr machen, hab ich das beruhigende Gefühl, dass mit Madame Delpy eine würdige Nachfolgerin im Schaffen großartiger neurotischer Filmcharaktere schon bereit steht.

Und ihr? Wenn Geldbeutel, Wetter, Terminkalender oder andere das Reisen verhindern, welcher Film oder welche Musik hilft als Ersatz?

Kirsten

9 Kommentare:

  1. Ohh, das klingt alles ganz wunderbar - ich möchte am liebsten direkt den Fernseher anschmeißen. Einen solchen Urlaub könnte ich grad mitten in einer Hausrenovierung gut gebrauchen :-)
    Bei mir dürfte auf keinen Fall "Breakfast at Tiffany's" fehlen. Und als Musik brauche ich immer ganz dringend "Boards of Cananda" ... das ist auch im Moment das einzige, was ich ertrage, um runter zu kommen ;-)
    (Röyksopp geht aber auch immer gut.)
    Wünsche einen schönen Urlaub!

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  2. Immer hilft: Ronja Räubertochter, in der Originalfassung auf Schwedisch. Das hilft gegen die Schweden-Sehnsucht und gegen jede Art von Traurigkeit.

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  3. tagsüber filme kucken ist auf jedenfall ferien! neulich rosa von praunheims überleben in newyork und newyork memories gekuckt, das war auf jeden fall ein trip, okeh, ne zeitreise - und schwärmerische musik, gerne auf französisch, trägt mich auch weg. schönen sommer noch!

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  4. Mir helfen immer Filme fürs Herz (Sinn & Sinnlichkeit, Notting Hill, Tatsächlich Liebe) oder Backen (frisches Brot, Kuchen, Törtchen...). Nach 2 Wochen Holland musste ich erstmal zuhause backen. Urlaub ist wunderbar woanders, aber nach Hause kommen und zuhause sein ist es auch!
    Liebe Grüße und eine ganz tolle Zeit. Ich bin sicher, dass hunderttausend Menschen gerne jetzt mit dir tauschen möchten!
    Christina

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  5. Ich wünsche Dir einen schönen Urlaub! Wir haben gerade 14 Tage Urlaub Zuhause hinter uns und ihn in vollen Zügen genossen! Ausschlafen, ewig frühstücken, draußen sitzen, Essen gehen usw. Soeben habe ich die erste Staffel von Downtown Abbey erhalten und bin schon riesig gespannt darauf.

    Liebe Grüße, Carmen

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  6. Großartig. Ich war ja schon auf Urlaub, richtig lang, richtig schön stressfrei in unserem Sommerhaus und brauche jetzt Tipps, wie ich das Stadtleben möglichst angenehm beginnen kann. Genau so, diese Filme muss ich sehen, immer wieder, zum ersten Mal! Danke für diesen genialen Beitrag.

    Liebe Grüße nach Köln, lümmele schön weiter einfach rum ;o)
    Mailis

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  7. Der Urlaub zuhause klingt verlockend...
    ich liebe Julie Delpy...!
    Und zum Thema Fernweh-Hilfe fällt mir ein:
    L'auberge espagnole. So ein witziger Multi-Kulti-Film, mit allen Klischees spielend, aber so liebevoll...

    Liebe Grüße,
    Julia

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  8. Chocolate, Julie und Julia, Die fabelhafte Welt der Amelie lassen einen so schön durch Frankreich/ Paris reisen. Der jeweilige Soundtrack dazu tut's auch.

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