Ihr Blick, wenn sie zweieinhalb Minuten gedöst hat und dann aufwacht, als hätte sie die letzten 16 Stunden in einem Boxspringbett geschlafen. Ihre Augen leuchten, dann gluckst sie. Und ich möchte verzweifeln und verzweifle auch ein bisschen, weil ich so müde bin und noch 37 Dinge erledigen müsste und bin doch glücklich, von oben bis unten, wie Fanny immer sagt. Weil sie sie ist. Weil sie da ist. Ach, Hedi.
Und überhaupt: ihr Lachen. Auf wieviele Arten sie jetzt lacht. Wie sie kichert, kiekst, gurrt. Am lautesten, wenn wir so tun, als würden wir schmatzend ihren Bauch aufessen, ganz leise, wenn sie nachts aufwacht und im Fastdunkeln sieht, dass ich noch da bin.
Und die beiden Mädchen zusammen. Wie Fanny sie knuddelt und im Arm hält, ihr Schlaflieder vorsingt, sie wickelt, außer wenn es eine krasse Windel ist. Es ist immer noch schwer für sie, morgens aufzuwachen, an die neue Schulzeit haben wir uns auch nach einem halben Jahr noch nicht gewöhnt, aber egal, wie morgenmüde sie ist, immer geht sie noch an Hedis Bett und gibt ihr einen Kuss. Und dann noch einen. Ich versuche immer, ihre Blicke zu fotografieren, aber die Bilder zeigen nie, wie es wirklich ist. Die Freude, mit der sie einander ansehen, und die Vertrautheit, Fannys Stolz, ihre Zärtlichkeit, ihre Spiele. Dinge, auf die ich nie kommen würde, und die ganz allein ihnen beiden gehören, Ohrenküsse, Nasenschlecker, Fußpupse. Und dann gluckst sie los und strahlt ihre große Schwester an, und ich muss weggucken, weil mein Herz das nicht aushält, und gucke natürlich trotzdem hin.
Und die Müdigkeit. Ich wusste, was mich erwartet, und hatte doch nicht damit gerechnet, aber da ist sie wieder, diese Müdigkeit, die einem in die Knochen kriecht und in den Kopf und manchmal auch ins Herz. Eine Müdigkeit, die nicht nur mit mangelndem Schlaf zu tun hat, sondern auch damit, was für ein Dauerlauf dieses neue Leben an manchen Tagen ist. Dann versuche ich, nicht so angefasst zu sein, wie ich mich fühle, und darüber zu lachen, dass ich drei Stunden brauche, um mir ein Brot zu schmieren, an manchen Tagen gelingt es mir sogar. Und trotzdem ist da eine Wachheit gerade. Eine Neugier aufs Leben, auf ihres, unseres, meines. Ich habe in den letzten vier Wochen mehr Pläne geschmiedet, als im ganzen letzten Jahr. Als hätte jemand einen Vorhang zur Seite gezogen, guck mal, das alles ist dein Leben, und all das könnte es noch sein, ist das nicht schön?
Und die Gelassenheit, die plötzlich auch da ist. Manches, über das ich mich vor einem halben Jahr noch tierisch geärgert hätte, ist plötzlich nur noch nervig und dann auch schnell abgehakt. Weil ich keine Lust habe, mich von Blödsinnigkeiten ärgern zu lassen, nicht jetzt.
Und die Dankbarkeit. Immer wieder und in den merkwürdigsten Momenten: einfach bloß riesengroße Dankbarkeit. Und riesengroßes Staunen. Wie irre sich die Natur uns Menschen ausgedacht hat, plötzlich ist da ein Sinn für Humor, plötzlich sind da Haare, plötzlich ist da Sprache, ein Örrrööö und ein Raaagaaa.
Und wie vertraut sich das Zuviertsein anfühlt. Es ist erst drei Monate her, dass wir zu dritt waren, sechs Jahre lang, und ich kann mich nicht mehr so richtig daran erinnern, wie das war, als sie noch nicht da war. Wie ich mir nicht mehr vorstellen kann, dass wir jahrelang zu zweit waren, nur wir beide. Da ist schon so viel Selbstverständlichkeit. Und Bandenverschworenheit.
Und dieses komische Alarmiertsein ständig. Irgendetwas in mir spürt, wenn sie nachts die Augen öffnet. Dann liegt sie da, ganz still, und blinzelt in die Nacht, und ich liege neben ihr, und dann blinzeln wir uns beide an, und sie lacht schon wieder. Schläft sie mal länger, wache ich von ihren Nicht-Geräuschen auf und weil es so still ist und ich lieber doch mal eben gucken will, ob alles in Ordnung ist.
Und das Rumschwärmen. Schau doch mal, ihr Daumen, dieser winzigkleine Daumen. Obwohl wir ihn ja alle sehen. Aber es ist so schön, es auszusprechen und zu teilen. Alles an ihr zu beschwärmen. Unsere Kosenamensammlung noch ein wenig zu erweitern, Hedchen, Hedilette, Hedita, Fräulein Knöterig, Sönnchen. Aber so darf nur Fanny sie nennen, diesen Namen hat sie sich ausgedacht, manchmal darf ich ihn mir ausleihen, aber ich muss vorher immer fragen.
Und das Symbiotischsein. Ihr Bett zu sein, ihr Kängurubeutel, ihre Wärmflasche.
Und all die Winzigkeiten von ihr zu kennen. Wie sie klingt, wenn sie hungrig ist. Wie sie klingt, wenn sie sehr hungrig ist. Wie sie klingt, wenn sie müde ist, aber nicht schlafen will. Wie sie klingt, wenn sie wach ist und Lust auf Blödsinn hat.
Und das Vernarrtsein. Diese Speckbacken, diese Stupsnase, diese Kräusellippe, diese Weichheit, diese Duftigkeit.
Und der Wert, den Zeit plötzlich bekommt. Vor ein paar Tagen bin ich aus dem Schlafzimmer gerannt, als sie endlich eingeschlafen war, und dann voll gegen den Türrahmen geknallt, bloß weil ich schon wieder so viel machen wollte.
Und die komischen Dates, die wir jetzt wieder haben und die eigentlich bloß darin bestehen, halbwegs wach, sehr wortkarg und eislöffelnd eine Folge „Designated Survivor” zu gucken, was unromantisch klingt, aber irre schön ist, schon weil ich mit keinem Menschen lieber wortkarg eislöffle als mit ihm.
Und das Gefühl, ihm beim Vatersein zuzusehen.
Und die Angst, die plötzlich wieder da ist. Um sie, um uns, davor, dass etwas passieren könnte, auch vor dieser verrückten Welt, die ich gerade so wenig verstehe, und jeden Tag noch ein bisschen weniger.
Und die Angst, die plötzlich nicht mehr da ist. Dieses Mal frage ich mich nicht, ob ich eine gute Mutter bin. Es ist mir wurscht, ob ich das perfekt mache oder okay, weil es okay ist, okay zu sein. Dieses Mal fühle ich mich nicht so einsam wie in den ersten Monaten mit Fanny. Dieses Mal sage ich schneller, was ich brauche und wann ich es brauche. Dieses Mal frage ich mich nicht, wie das alles geht. Und wenn ich nicht weiterweiß, weiß ich wenigstens, dass auch die harten Tage ein Ende haben. Was mich natürlich nicht daran hindert, die harten Tage echt hart zu finden. Die Tage, an denen mir das Müdesein weh tut und der Rücken und die Pausenlosigkeit. Und Fanny dann von der Schule kommt und ich versuche, sie zu trösten, weil ihr Tag und ein Mädchen gemein zu ihr waren, und sie ihre Lieblingsplaymobilfigur nicht wiederfindet und es nicht schafft, ein schönes Pferd zu malen, obwohl ich ja finde, dass ihr Pferd total schön aussieht, was das Ganze noch viel schlimmer macht, weil ich nicht kapiere, wie total doofdoofdoof dieses Pferd ist, und schon kriecht sie unter ihr Bett und weint ganz bitterlich und kippt mit dem Fuß aus Versehen die Schüssel mit dem Brausebrei um, den sie gerade aufwendig zusammengerührt hat, und ich komme nicht an sie ran, weil ich mir Hedi umgebunden habe, die dann auch anfängt zu weinen, obwohl sie nach zwei Stunden durch die Wohnung tragen gerade eingeschlafen war, und ich würde gerne mitheulen, wenn wir schon mal dabei sind, aber mein Fuß klebt gerade auf der Erde fest.
Und dann liegen wir auf unserem Bett und ich hab Hedi im einen Arm und Fanny im anderen, und er liegt daneben und protestiert, dass sein Arm ja ganz leer sei, und jeder sagt etwas, und meistens alle gleichzeitig, und Hedi örööööt und alles ist richtig, wieder so richtig.