Ein blau-weiß kariertes Säckchen mit Murmeln darin. Ich war überzeugt, dass sie mir Glück bringen. Ich habe mir sogar noch mit 18 zur ersten Führerscheinprüfung eine Murmel aus diesem Sack in die Hosentasche gesteckt. Durchgefallen bin ich dann trotzdem. Ein fünf Seiten langer Brief von einem Jungen, der mich erst zurückliebte, als ich endlich über ihn hinweg war. Mein erster Reisepass, abgelaufen 1998, mit einem kanadischen Einreisestempel vom 31. März 1993. Zwei Tage vor meinem 16. Geburtstag war ich mit dem Jugendorchester nach Toronto geflogen, meine erste richtig große Reise. Wir hatten gefragt, ob wir nach vorne zu den Piloten ins Cockpit dürfen und wir durften. Wahrscheinlich hat das Ganze nicht länger als eine Minute gedauert, aber den Blick auf den dunklen Himmel vor mir werde ich nie vergessen. Ein Foto meiner ersten großen Liebe in einem winzigen Goldrahmen vom Flohmarkt, er trägt eine rote Jeans und noch lange Haare. Eine Kassette von einem Rapper namens Spax, ich glaube, die hat mir damals mein Bruder geschenkt. Im Gegensatz zu ihm hatte ich keine Ahnung von deutschem Rap. Ein paar Postkarten von Freunden. Schwarz-Weiß-Postkarten von berühmten Künstlern. Sehr viele Briefe. Ein Post-it, das nicht mehr klebt. Ein Passfoto von meiner finnischen Brieffreundin, die ich über eine Brieffreunde-Agentur gefunden hatte. Ein großer Stapel Fotos, den mein Vater irgendwann vom Dachboden geborgen hat.
Irgendwann habe ich all die Dinge, die ich aufheben wollte, in eine weiße Hutschachtel gelegt. Bei einem der vielen Umzüge muss die Hutschachtel kaputt oder verloren gegangen sein, denn jetzt liegen all die Frühers in einer nicht gerade hübschen Pappschachtel unter meinem Schreibtisch. Geöffnet habe ich sie nur, weil ich nach einem Ersatzkabel für meinen Computer suchte, und jetzt sitze ich hier und bin wieder 14, 15, 16, 17, 18. Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass ein gebrochenes Herz nie, niemals heilen wird. Ich trage blaue Wimperntusche und blaue DocMartens. Ich höre immer und immer wieder „What´s up” von den 4 Non Blondes, weil M. mich zu diesem Song zum allerersten Mal geküsst hat und ich mir nicht sicher bin, ob es je einen zweiten Kuss geben wird oder einen, der sich besser anfühlt. Ich klebe fast jeden Tag eine Collage in mein Tagebuch. Alles, was sich sehr groß anfühlt, schreibe ich in großen Buchstaben. Ich lese „Djamila” von Tschingis Aitmatow und „Unterm Rad” von Hermann Hesse und schreibe meine Lieblingssätze in mein Tagebuch. Ich würde D. gerne sagen, was für ein verdammtes Arschloch er war, traue mich aber nicht. Ich würde meine Freundinnen gerne fragen, ob sie sich manchmal auch so beschissen einsam fühlen, so unverbunden, so danebenstehend, so anders, habe aber Angst, dass sie mich auslachen. Ich esse viel zu viele Stapelchips. Ich lasse mir von meinem Bruder eine Dreadlock drehen und färbe sie lila, vor allem um meine Mutter zu ärgern. Hat auch funktioniert. Ich weiß nicht, ob ich meine Brüste super oder schrecklich finde und trage deshalb weite T-Shirts. Ich schreibe Gedichte. Ich klaue meiner großen Schwester ihre Frauenzeitschriften, weil ich die Fotos darin so schön finde. Ich trage einen Hut. Ich probiere Blue Curaçao und trinke weiter, obwohl ich ihn eklig finde. Keine gute Idee. Ich trage dieses Parfüm aus dem Bodyshop, auf das ich gespart habe, aber nie in der Schule. Ich werde bei dem Gedanken rot, schon wieder rot zu werden. Ich bin gut in Bio und grottig in Chemie. Ich würde gerne mit meiner großen Schwester ins Sunup´s ausgehen, darf aber nicht. Ich finde, dass Pearl Jam die beste Band der Welt ist. Ich bin schüchtern. Ich bin scheißdrauf. Ich bin todunglücklich. Ich könnte die Welt umarmen.
Habe ich auch, so eine Kiste.
AntwortenLöschenWie schön du das geschrieben hast!
(habe deine langen "Schreib-Posts" hier vermisst, was ich aber erst gerade gemerkt habe, beim Lesen…)
Wie alt ist man eigentlich, wenn man so gerührt ist, von dem Wesen, das man war, damals?
Eine Zeitlang war es peinlich, jetzt bin ich gerührt.
Liebe Grüsse!
Habe ich mir eben auch gedacht, liebe Melanie, wie alt man ist, wenn man gerührt ist von dem Wesen, das man war, und nicht mehr peinlich berührt. Du sagst es. Ganz liebe Grüße!
LöschenVielen Dank für diesen Text, ich kann Melanie nur zustimmen. Wie Du es schaffst, dass man selbst auf diese Reise geht. Mir sind Sachen eingefallen, an die ich bestimmt 30 Jahre nicht gedacht habe. Gerührt und berührt, liebe Grüße
LöschenEinfach herrlich! Und in Gedanken habe ich jetzt meine 14-18 Liste geschrieben und bin wehmütig. Aber auch irgendwie erleichtert. Das war eine so großartige Zeit damals und ich fühle mich ihr so nah als wäre ich erst gestern in meinem Kinderzimmer gesessen und hätte mir von Radiohead's Creep das Herz zum hundertsten Mal brechen lassen, über Albert Camus "Die Pest" philosophiertest, versucht meinen Bruder und seine Freund zu belehren, mit meinem Freund wahlweise gestritten oder geknutscht und den dringend Wunsch gehabt endlich erwachsen zu sein...unglaublich dass das schon so unfassbar lange her ist.
AntwortenLöschenDanke Dir Okka!
Happy weekend!
Creep! Ich kann den Text jetzt noch auswendig. Mach ich gleich mal an. Dir auch: Happy Weekend!
Löschenoh bei creep läuft hier auch direkt der Erinnerungsfilm los :)
LöschenBoah - das trifft mich mitten ins Herz, liebe Okka. Bei mir ist es ein geflochtenes Köfferchen, das noch in meinem Elternhaus steht und in das ich gar nicht mehr reinschauen mag. Weil es mich an eine unendlich lange Zeit des unglücklich Verliebtseins erinnert. Da war ich 12. Und hab geschwärmt und ihm sogar gestanden, wie verliebt ich in ihn bin. Und er war auch 12 und einfach überfordert. Vor ein paar Jahren hab ich ihn getroffen auf einem Fest, er hat mich angestrahlt - und meinen Mann gesiezt. Darüber muss ich immer noch lachen. Liebe Okka, danke, mal wieder für Deinen Post! Mit lieben Grüßen aus München, Josefine
AntwortenLöschen"Aus Liebeskummer Pearl Jam hören bis zum Umfallen" hab ich damals mal an die "jetzt" geschickt, für die Lebenswert-Liste auf der letzten Seite. Und die haben es tatsächlich abgedruckt.
AntwortenLöschenDu hast mich mit Deinem Post wieder dran erinnert - danke! Muss ich gleich mal wieder reinhören...
Gruß von
Sophie
Bei mir liegen diese Erinnerungsstücke verstreut und dein Post hat mich darauf gebracht, endlich mal alle zusammenzupacken. Und ich weiß noch genau, bei mir war es Sinead O'Connor mit "Nothing compares to you" und den Text kann ich heute noch auswendig...
AntwortenLöschenDanke fürs dran erinnern!
Liebe Grüße,
Simone
danke, okka.
AntwortenLöschenauch ich merke beim lesen, wie ich deine schreibe über die allerwichtigsten dinge vermisst habe. dieses anders sein unter den eigenen freundinnen, das hat mich an ein ganz vertrautes gefühl erinnert. ulkig, so weit weg und so vertraut.
viele grüße,
sabine
Oh weh, ich habe mehrere Kartons mit Tickets, Karten, Metroplänen von Paris, Zeitungsausrissen, Briefmarken, Fotos, Schachteln, besondere Drucke.... alles, was irgendwie mit einer Erinnerung zusammen hängt und ich dachte über Sylvester, ich werde das alles mal aufräumen und in ein Album kleben.... aber da fängts an. Eigentlich würde ich das gern chronologisch machen, aber bei vielen Dingen kann ich nicht mehr sagen, wann die zur Sammlung gekommen sind....und eigentlich sollten einige Dinge auch ins Fotoalbum hineinkommen.... na ja.... ich bin noch nicht so weit.
AntwortenLöschenSchön aber zu wissen, dass auch andere solche Kisten haben.... das beruhigt doch ungemein. Aber so ein wenig Messitum darf einfach sein, sonst wäre das Leben viel zu steril.
LG Gabrielle
danke, liebe okka!
AntwortenLöschen"What`s up"...auf dem Abschluss mit der Schulband gesungen..und noch "Schrei nach Liebe"von den Ärzten...und da es eine katholische Schule war, das ALLERWICHTIGSTE Wort im ganzen Lied immer ausgelassen und die komplette Aula singen lassen, denn dazu hatte der Rektor ja nichts gesagt vorher...ach ja, war das nicht erst gestern ?
AntwortenLöschenUnd tolle Mix-Kassetten hast Du immer bespielt, zB "Blanché-Abend-Mucke" (habe ich immer noch) und Briefe geschrieben und in selbstgebastelten Umschlägen aus Zeitschriftenseiten verschickt. Und mit mir zu "Mach die Augen zu" von den Ärzten Liebeskummer mitgefühlt. Du warst toll mit 16, Okka. Voller Fantasie, Kreativität, Mut, Weltschmerz, Wärme, herrlicher Albernheit und Empathie, Unsicherheit und aus meiner damals 14jährigen Wahrnehmung so sicher mit dem, wie Du bist und wie nicht. Eine Freundin zum Pferdestehlen und stundenlang reden, verbotene Sachen machen und gegen die Eltern rebellieren. Danke dafür! Deine Jane
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LöschenOh, was für ein schöner Text! Und ist es nicht seltsam, dass die Nostalgie manchmal so um sich greift, dass sie sogar all das miteinschliesst , das man nicht mehr zurückhaben will? Erinnerung im Gesamtpaket.Eine Zeitreisekiste mit konservierten Erinnerungen, die habe ich auch...wird in großen Abständen geöffnet und dann wieder gut und fest verschnürt :-).
AntwortenLöschenLiebe Grüße, Taija
Die großen Lieben in meinem Leben haben mir ein Mix-Tape aufgenommen. Die habe ich dann in Endlosschleife gehört, wenn es vorbei war, "Hunting high and low" von Aha, weil er sich auf einmal lieber mit dem blonden Gift traf, deren Eltern einen Pool im Garten hatten oder "I can't stand loosing you" von Police. Dabei so ein historisches Ereignis wie den Mauerfall verpasst, da gerade mit dem schlimmsten Liebeskummer ever ever ever beschäftigt gewesen. Andere sind nach Helmstedt zur Grenze gefahren und haben die Trabbis begrüßt, ich saß zu Hause und dachte, ich werde nie wieder glücklich...und wie schön es ist, dass mich heute diese 19jährige von damals so anrührt. Danke!
AntwortenLöschenAngela
Ein ganz wunderbarer Text, der die Widersprüchlichkeit dieser Zeit mit so wenigen Worten so punktgenau einfängt. Diese zerbrechliche Stärke, schamhafte Selbstverliebtheit, dieses Alles-ist-möglich-und-könnte-immer-das-letzte-Mal-sein...
AntwortenLöschenHier ist auch noch so eine, die (mindestens) eine solche Kiste hat ... Ich dachte auch immer, ich bin die einzige mit Weltschmerz (damals habe ich es für Depressionen gehalten), aber wahrscheinlich hatten es alle ...
AntwortenLöschenUnd natürlich gab es auch diesen einen Jungen, 3 Jahre älter, in den ich mit 14 total verknallt war und mit dem es - natürlich - nichts geworden ist. 8 Jahre später hab ich ihn auf einer Party getroffen und ihm meine Gefühle von damals gestanden und was sagt er? "Mir ging's genauso." Im Nachhinein weiß ich aber, dass es so viel besser war, ich war mit 14 noch viel zu jung :-)
.. beim Lesen wiedererkannt, Kiste aus der Studie-Umzugskiste im Keller geholt, jedes Wort mitgesungen, etwas Herzklopfen und Wehmut bis die Kinder um 20.00 vorwurfsvoll riefen: "Mama, wann gibts endlich Abendessen?!!!" - Danke <3
AntwortenLöschenGänsehaut, liebe Okka, und Tränen in den Augen. So eine pinke Metallkiste steht noch bei meinen Eltern, ich hoffe sie ist nicht abgeschlossen. Lustig: Der Rapper Spax wohnt in Hannover und wie ich letztens herausgefunden habe, ist er mit einer Frau verheiratet, die ich nach Jahren beim Yoga wiedergetroffen habe. Und heute hat sich nach 20 Jahren mein Ex-Freund gemeldet...verrückte Welt. Und ja: Pearl Jam war für mich damals auch die beste Band. Ganz liebe Grüße und ich schwelge noch ein bisschen..., Viola
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