VOM ENDE DER EINSAMKEIT



„Es hieß, unsere Großmutter sei in ihrer Jugend eine hervorragende Schwimmerin gewesen und im ganzen Dorf beliebt. Das musste hunderte Jahre her sein. Ihre Arme wirkten zerbrechlich, sie hatte einen runzligen Schildkrötenkopf, und der Lärm, den ihre Enkel machten, schien sie kaum noch zu ertragen. Wir Kinder fürchteten uns vor ihr und vor dem karg eingerichteten Haus mit den altmodischen Tapeten und Eisenbetten. Ein Rätsel, wieso unser Vater jeden Sommer hierherkommen wollte. „Es war, als müsse er Jahr für Jahr an den Ort seiner größten Demütigung zurückkehren”, hatte Marty später einmal gesagt. Doch es gab auch: Kaffeeduft am Morgen. Sonnenstrahlen auf dem gefliesten Boden des Salons. Zartes Scheppern aus der Küche, wenn meine Geschwister das Besteck für das Frühstück holten. Mein Vater in seine Zeitung vertieft, meine Mutter Pläne für den Tag schmiedend. Danach Höhlenwanderungen, Fahrradtouren oder eine Partie Pétanque im Park.

Lange bin ich nicht mehr in einem Buch versunken. Mir fehlt gerade die Ruhe dazu. Wenn viel los ist in meinem Leben, schaue ich mir lieber einen Film oder eine Fernsehserie an, irgendetwas, das mir nicht allzu nahe kommt. Dann kam dieser Tag, an dem es mir nicht gut ging und ich den ganzen Tag im Bett lag. Also fing ich an zu lesen, das Buch, das ich eigentlich schon in Paris anfangen wollte. Und ich las. Und las weiter. Noch ein Kapitel. Und noch eines. Zwischendrin habe ich geweint, irgendwie war mir das peinlich, sogar vor mir selbst, wahrscheinlich weil ich nicht einmal wusste, was genau mich da eigentlich so getroffen hatte. Das passiert mir manchmal. Dann erwischt mich ein Satz, ein Text, ein Song, und rumort in mir herum, weil ich etwas von mir in ihm erkenne, für das ich vorher noch keine Worte hatte.

„Was wäre das Unveränderliche in dir? Das, was in jedem Leben gleich geblieben wäre, egal, welchen Verlauf es genommen hätte?”

In „Vom Ende der Einsamkeit” erzählt der Münchner Autor Benedict Wells von Jules, der nach einem Motorradunfall aus dem Koma erwacht. Er überlebt, obwohl es knapp war. Es ist nicht der erste Unfall, der ihn aus der Bahn wirft. Denn als Jules zehn Jahre alt ist, sterben seine Eltern bei einem Autounfall und plötzlich ist alles anders. Zusammen mit seinen Geschwistern Marty und Liz kommt er auf ein Internat. In den Jahren danach versuchen sie, ihren Weg zu finden und finden doch lange nicht zu sich selbst. Sie fallen hin, stehen wieder auf, suchen weiter, versuchen, einander Halt zu geben und bleiben doch (lange) alleine. Die Geschichte nimmt dann noch viele Wendungen, und aus der Geschichte eines einsamen Jungen wird die Liebesgeschichte eines Paares. Doch die Fragen, die allem zugrunde liegen, bleiben immer die gleichen: Wie wird man zu dem Menschen, der man ist? Wie lange hat man Zeit, etwas an diesem Menschen zu ändern? Und wie schafft man das überhaupt? Zumindest sind das die Fragen, die ich beim Lesen im Kopf hatte – wahrscheinlich kann einem dieses Buch noch viele andere Fragen stellen. Auch das mag ich so an „Vom Ende der Einsamkeit”: Es ist unheimlich präzise, genau, dicht. Und lässt doch vieles in der Schwebe. Es ist unendlich traurig und mag dabei das Leben sehr. Es haut manchmal ziemlich in die Vollen und lässt seine Figuren mehr durchleben, als gefühlt in ein Leben passt. Aber ich mag auch diese Undosiertheit und das Nicht-Aussparen, ich mag es, wenn Geschichten sich das trauen. Und einen so gar nicht in Ruhe lassen. Endlich mal wieder. 

„Glaub mir, ich hab´s verdient, dass er mich verlassen hat.” Fast spöttisch: „Jules, du siehst immer jemanden in mir, der ich nicht bin.”
„Nein, andersrum. Du bist jemand, den du nicht siehst.”

Benedict Wells: „Vom Ende der Einsamkeit”, 368 Seiten, Diogenes. 

15 Kommentare:

  1. Liebe Okka,
    dieses Buch hat es geschafft, dass ich als Buchhändlerin lange Zeit kein neues Buch anfangen konnte. Kennst Du das? Wenn Dich ein Buch so mitten ins Herz trifft und nicht mehr aus Deinem Kopf geht, dass es der nächste Titel verdammt schwer hat? So ist es mit dem Ende der Einsamkeit. Oft überfliege ich manche Sätze beim Lesen. Hier habe ich jeden Satz aufgesaugt, mich daran fest gelesen, ganz viel geweint...es ist so unglaublich traurig aber auch so unglaublich schön. Es lag lange auf meinem zu lesenden Bücherstapel, ich habe mich nicht ran getraut aber nachdem ich das xte Buch weg gelegt habe, weil es mich nicht packte, kam der Wells dran - und hat mich nicht mehr losgelassen.
    Und ich freue mich so, dass es Dir auch so gut gefallen hat.
    Angela

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    1. Liebe Angela, das kenne ich gut. Obwohl ich mir nach diesem Buch wirklich geschworen habe, endlich wieder mehr zu lesen... Gibt es denn schon ein Buch, das dir danach so richtig gefallen hat? Freu mich über Tipps! Liebe Grüße! Okka

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  2. Es gibt Bücher, die lese ich gar nicht fertig. Bei manchen, weiß ich nach der Hälfte noch immer nicht, ob ich sie mag und ich lese sie in Etappen. Panikherz, zum Beispiel. Das lese ich schon seit einem Monat und bin noch nicht fertig. Und dann gibts welche, die lese ich In Kürze durch und weiß, das ist eine große Buchliebe und das werde ich immer wieder lesen. Vom Ende der Einsamkeit ist so ein Buch. Letzte Woche in drei Tagen gelesen und berührt von so einer Geschichte. So traurig und froh und bejahend zugleich. Wie gesagt, große Buchliebe. Liebe Grüße, elisabeth

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    1. Bei mir auch. Und mit "Panikherz" geht´s mir ähnlich, das lese ich auch immer nur in Etappen... Schönes Wochenende, liebe Elisabeth!

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  3. also - ich geb' ja nix auf so empfehlungen. noch dazu so euphorische im netz. richtig widerstrebend hab ich es dann doch gelesen, es lag halt grad so rum....
    und bin versunken in dieser geschichte: habe gebangt und gelacht und gehofft und geheult.
    >>> euphorische empfehlung!
    :) tigermama

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  4. Liebe Okka,
    mich hat es bei diesem Buch mindestens genauso erwischt. Lange hat mich kein Buch mehr so berührt wie dieses. Ich habe es vor ein paar Tagen durchgelesen, aber es lässt mich immer noch nicht los.
    Auch ich habe beim Lesen geweint und mir viele Sätze markiert.

    Ich überlege, ob ich jetzt ein anderes Buch des Autors lesen sollte. Aber ich trau mich nicht. Nachher ist es nicht so gut...

    Liebe Grüße
    Susanne

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    1. Liebe Susanne,

      wenn Du ein anderes Buch von Benedict Wells lesen möchtest, lies "Fast genial", das ist der Titel vor dem "Ende der Einsamkeit". Es ist anders aber auch ganz toll. Der Autor steigert sich wirklich von Buch zu Buch.

      Herzliche Grüße
      Angela

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    2. Danke für den Tipp! Mir ging´s ganz genauso wie Susanne...

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  5. Liebe Angela,

    vielen Dank für den Tipp! Ich werde mir das Buch besorgen und bin total gespannt!

    Liebe Grüße
    Susanne

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  6. Was für ein Zufall, dass Du ausgerechnet jetzt dieses Buch erwähnst. Ich hatte es mir letzte Woche auf einen langen Flug mitgenommen: unterwegs ohne drei kleinen Kinder, Hurra, eine gefühlte Lebensspanne an ungestörter Lesezeit! Und hatte mir erhofft, dass die Zeit im wahrsten Sinne des Wortes wie im Flug vergeht, weil versunken in dieses Buch, das die FAZ so rezensiert hat, dass ich um einen Kauf nicht herum kam. War nicht so. Vielleicht war ich zu abgelenkt, mit dem Kopf noch zu sehr in Deutschland, vielleicht noch zu berauscht von meiner Vor-Lektüre ("Die Großwäscherei" von Gelleri, unglaublich), jedenfalls habe ich es nicht über die ersten hundert Seiten hinaus geschafft. Einzelne Sätze und Gedanken traumschön, aber vereinzelt; zu viele andere erschienen mir als der zu offensichtliche Versuch großer, überraschender Gedanken. Zu bemüht. Deine Rezension macht mir aber Lust darauf, einen erneuten Anlauf zu nehmen. Vielleicht reichen hundert Seiten ja nicht.
    Liebe Grüße, Silja

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    1. Ach, schade, dass es nicht das genau richtige Buch für diese Lesezeit war. Aber manchmal passt es ja auch einfach nicht, ist mir auch schon passiert... Vielleicht beim zweiten Anlauf? Liebe Grüße! Okka

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  7. Mich hat dieses Buch auch erwischt. Zuerst dachte ich, ich lese eine kleine, feine Geschichte und dann kommen da Sätze um die Ecke, die einen unerwartet berühren und aufwühlen und ganze Gedankenketten anstossen... Jetzt, ein paar Tage nach der letzten Seite, schwingt das Buch immer noch nach. Das liegt vielleicht auch an der passenden Playlist auf youtube. Allerdings musste ich bisher bei Moon River immer eine Pause machen....

    Liebe Grüße

    Pavla

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    1. Es gibt eine passende Playlist auf Youtube? Die muss ich gleich mal suchen, danke für den Tipp! Und liebe Grüße! Okka

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    2. Danke, wie toll. Falls noch jemand sucht, hier ist er:
      https://www.youtube.com/watch?v=0o_rGhcBgME&index=1&list=PLBr15elnny2aL08ozhjevgM8zZW9ZrIWP

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  8. Hallo Okka,
    ich habe das Buch vor ein paar Wochen auch gelesen und bin genauso begeistert wie du. Es war mein erstes Buch von Wells und für den bevorstehenden Urlaub habe ich hier schon "Becks letzter Sommer" liegen und bin gespannt.
    Die Playlist kannte ich noch nicht, die muss ich mir nachher direkt mal anhören.
    Liebe Grüße, Kerstin

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